Rezension
Verzweiflung

von Vladimir Nabokov
Originaltitel: Отчаяние (Otčajanie) / Despair
Rowohlt Verlag, 307 Seiten
Preis: 9,99€
Inhalt
Die Bluttat als Kunstwerk: In seinem frühen Roman erzählt Vladimir Nabokov, angeregt durch einen spektakulären Kriminalfall im Deutschland der zwanziger Jahre, die Geschichte eines mörderischen Versicherungsbetrugs.
Der etwas dreißigjährige Hermann sucht sich einen Doppelgänger, mit dessen Hilfe er seine eigene Lebensversicherung kassieren will. Hermann hält sich für weitaus klüger als er ist, er ist bemerkenswert ignorant, geradezu blind anderen Menschen gegenüber, er bastelt sich seine eigene Realität zusammen. Und genau davon handelt der Roman: Wie wird Realität konstruiert?
Meine Meinung
Ich habe „Verzweiflung“ diesen Monat für denselben Unikurs gelesen, für den ich letzten Monta schon „Lolita“ gelesen habe – insgesamt war es auch erst mein zweiter Nabokov, weswegen ich gar nicht anders konnte, als die beiden Bücher ab und zu zu vergleichen. Das bietet sich irgendwie auch fast schon an, stellte doch Nabokov selbst eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Humbert und Hermann, seinen beiden Helden-Schurken fest, die sich gleichen „[…] wie zwei Drachen einander ähnlich sehen, die von demselben Künstler in verschiedenen Abschnitten seines Lebens gemalt wurden.“
Ich habe – ganz anders als bei „Lolita“, das mich von erster Sekunde an in seinen Bann gezogen hat – ein bisschen gebraucht, um wirklich einen Zugang zu „Verzweiflung“ zu finden, und so ging das erste Drittel des Buches für mich eher schleppend voran. Das lag vor allem daran, dass Hermann – ganz anders als Humbert – weder sympathisch noch ein guter Autor ist. Wahnsinnig sprunghaft und komplett durcheinander bringt er seine Geschichte zu Papier – ich glaube ehrlich, wäre „Verzweiflung“ mein erster Nabokov gewesen hätte ich das Buch direkt wieder weggelegt und so bald wahrscheinlich auch keines mehr von ihm angefasst. Dass diese schlechte Autorschaft von Nabokov bewusst so geschaffen wurde, und wie wunderbar alles doch wieder in sich selbst passt, merkt man sonst nämlich erst, wenn man das Buch fertig gelesen hat.
Es ist kein Buch, bei dem man großartig mit irgendwelchen Charakteren mitfiebert oder gar eine enge Bindung zu ihnen aufbaut – dafür ist Hermann selbst zu unsympathisch und alle anderen werden von ihm zu sehr in den Schatten gestellt. Tatsächlich ist es stellenweise auf eine wirklich gute Art und Weise mehr wie der berühmte Autounfall – man weiß, dass alles irgendwie auf eine Katastrophe zusteuert und will eigentlich überhaupt nicht mehr hinsehen, kann aber dann doch nicht anders.
„Verzweiflung“ hat mir vor allem deshalb sehr viel Spaß gemacht, weil ich durch das Seminar, das ich besucht habe, beim Lesen schon über einiges Vorwissen über Nabokovs Motivik und Struktur hatte – eine riesige Welt, in die man wohl jahrelang eintauchen kann, wenn man möchte, denn gerade die Tatsache, dass seine Bücher eben nicht nur auf ein- oder zwei, sondern vielmehr auf vier, fünf, sechs Ebenen funktionieren, machen ihn wohl zu einem so großartigen Autor – und diese, anders als bei „Lolita“, bewusst wahrnehmen konnte. Alles, vom Verlust der eigenen Persönlichkeit, zur Wichtigkeit von Details, der Gefahr von Wahn und Blindheit für seine Umgebung, der Überlagerung von Vergangenheit und Gegenwart, der kompletten Abhängigkeit des Lesers von einem mehr als unzuverlässigen Erzähler bis zur bereits erwähnten Wichtigkeit der schreiberischen Fähigkeiten, wird hier wie auf dem Präsentierteller vor dem Leser ausgebreitet. Obwohl „Verzweiflung“ also natürlich nicht an das Genius von „Lolita“ herankommt, und ich es wohl auch nicht unbedingt als Einstiegslektüre empfehlen würde, ist es in dieser Hinsicht also wohl ein gutes Buch für Nabokov-„Änfänger“ wie mich.
Obwohl ich also einen recht holprigen Start mit dem Buch hatte habe ich es insgesamt wirklich gerne gelesen und war am Ende erneut begeistert von Nabokovs schriftstellerischem Können, welches er in diesem Roman so gekonnt hinter den absolut mangelhaften Fähigkeiten seines Protagonisten in diese Richtung versteckt. Der letzte Twist hat mich auf die beste Art und Weise komplett überrumpelt – „Verzweiflung“ wird auf jeden Fall nicht mein letztes Buch von Vladimir Nabokov gewesen sein!
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